Seit dem Fall der Mauer im Herbst 1989 hat die politische Landkarte in Europa und auf der ganzen Welt markante Veränderungen erfahren. Damit ergeben sich neue Gefahren und Risiken aber auch Chancen für die Schweiz. Die Schweizer Armee bemüht sich mit steten Reformen, den realen Bedrohungsbildern adäquat zu begegnen. Die Politik hat diese Entwicklung allerdings nur oberflächlich nachvollzogen. Aus dieser Konstellation ergeben sich Spannungsfelder, die der Armee die Erfüllung ihres Grundauftrages, die Gewährleistung von Sicherheit für die Bevölkerung in jeder Bedrohungslage, zunehmend erschweren. So ist die neue Armee zwar militärisch optimal aufgestellt, steht aber auf einem politisch nicht gefestigten Fundament. Diese Konstellation könnte sich in verschiedener Hinsicht als verhängnisvoll erweisen. Als Offiziersgesellschaft haben wir die Verpflichtung, auf erkannte Problemfelder hinzuweisen eine politische Diskussion darüber zu verlangen. Die nachfolgende, geraffte und damit notwendigerweise unvollständige Auslegeordnung will auf einige dieser ungelösten Grundsatzfragen hinweisen.

I. Ausgangslage

1. Grundlegende Veränderung der weltpolitischen Situation

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit ihr des Ostblocks im Jahre 1991 ist die bipolare Weltordnung von einer multipolaren und damit ungleich komplexeren Situation abgelöst worden. Nebst den USA als einzig verbliebener Supermacht haben in den letzten Jahren die Milliardenvölker der Chinesen und Inder zunehmend an wirtschaftlichem und geopolitischem Einfluss gewonnen. Daneben haben sich mit der Türkei, dem Iran oder Pakistan Regionalmächte etabliert. Parallel zu dieser sicherheitspolitischen Entwicklung haben sich die Wirtschaft, das Wissen und im Rahmen der internationalen Organisationen ein Stück weit auch die Politik globalisiert. In gesellschaftspolitischer Hinsicht ist in der westlichen Welt und damit auch in der Schweiz die Individualisierung zu Lasten des Gemeinsinns im Wachsen begriffen. Konstant sind der gewaltige Bedarf der industrialisierten Länder an natürlichen Ressourcen und das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd geblieben.

In Europa wurde die 12 Staaten umfassende EG als reine Wirtschaftgemeinschaft zur EU als multispektraler Organisation von 27 Staaten und 470 Mio. Bürgern weiterentwickelt. Die EU bildet derzeit nicht nur den weltweit grössten Wirtschaftsraum sondern auch eine Wertegemeinschaft demokratischer und rechtstaatlicher Staaten sowie eine Friedensordnung, die seit über 50 Jahren das erneute Aufbrechen der jahrhundertealten, zwischenstaatlichen Konflikte in der Region zu vermeiden hilft. Die militärische Bedeutung der EU ist allerdings bedingt durch überholte, nationalstaatliche Sicherheitskonzeptionen und die Interessenpolitik der USA noch immer gering. So hatten die USA in Ost-Mitteleuropa, Dänemark, Spanien und Italien Verbündete für ihren Feldzug im Irak gefunden, während sich Deutschland und Frankreich gegen eine Beteiligung an diesem ohne Zustimmung der UNO geführten Krieg aussprachen. Gleichzeitig drängen die USA die EU dazu, die Türkei als Neumitglied in die Gemeinschaft aufzunehmen, wohl in der Meinung ihr strategisch wichtiger NATO-Partner im Nahmen Osten werde damit verlässlicher und wohl auch im Wissen darum, dass sich die EU wirtschaftlich und politisch von diesem Kraftakt kaum wird erholen können. In weniger als einer Generation hat sich also die weltpolitische Situation grundlegend verändert und wird sich weiter verändern.

2. Veränderte Bedrohungslage

Mit dem Wegfall des bipolaren Weltbildes ist die während 45 Jahren reale Gefahr eines terrestrischen, atomar unterstützten Grossangriffs aus dem Osten neuen Gefahren gewichen. Heute stehen wir vor einer völlig neuen Bedrohungslage. Im Fokus stehen der internationale Kampf gegen den (islamistischen) Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, der Ausbruch lokaler bewaffneter Konflikte und Krisen mit ihren unerwünschten Folgen (z.B. Flüchtlingsströme). Daneben erleben wir mit zunehmender Häufigkeit Naturkatastrophen, die mit der Erderwärmung im Zusammenhang stehen. Geostrategisch wird in den nächsten Jahrzehnten der Ferne Osten mit dem erstarkten China und den aufstrebenden Regionalmächten an Bedeutung gewinnen. Die US-Navy hat bereits auf diese Entwicklung reagiert und unlängst mehrere Flottenverbände aus dem Atlantik in den Pazifik beordert. In weiterer Zukunft dürfte sich auch der Kampf um die natürlichen Ressourcen, insbesondere das Wasser verschärfen und nicht nur wie bereits heute im Nahen Osten zu Konflikten führen.

3. Die Reaktion der Schweiz

3.1 Die sicherheitspolitische Analyse

Im Sicherheitspolitischen Bericht 2000, den der Bundesrat auch heute noch als gültige Grundlage seines sicherheitspolitischen Handelns betrachtet, werden die Gefahren und Risiken für die Schweiz analysiert. Der Bericht hält fest, dass die Sicherheitsprobleme von heute grenzüberschreitend seien und die Staaten Europas vor den gleichen Herausforderungen stünden. Der Bericht zieht deshalb den Schluss, dass sich eine verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit aufdränge. Die sicherheitspolitische Strategie wurde deshalb von der autonomen Verteidigung auf eine Kooperation im In- und Ausland ausgerichtet. Im Inland wurde eine optimale Abstimmung der eigenen Mittel über die „umfassende flexible Sicherheitskooperation" angestrebt. Im Ausland wurde eine verstärkte Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten und internationalen Sicherheitsorganisationen sowie ein intensiveres Engagement bei der Friedenssicherung als Ziel definiert. Allerdings präzisierte der Bundesrat, dass er an einer kompromisslosen Einhaltung des Neutralitätsrechts festhalte. Trotzdem sah er einen erheblichen Handlungsspielraum der mehr als bisher im Sinne einer partizipativen Aussen- und Sicherheitspolitik genutzt werden müsse. Darauf basiert die neue Strategie Sicherheit durch Kooperation, welche die bisherige Strategie Sicherheit durch Autonomie ablöste.

3.2 Die strategische Neukonzeption der Armee

Ausgehend von dieser neuen Strategie wurden die Armeeaufträge Verteidigung / Raumsicherung, Existenzsicherung und Friedensförderung mit neuen Inhalten gefüllt. Die damalige Armee 95, ihrerseits selber ein Zwischenschritt, wurde konsequenterweise in die Armee XXI umgebaut. Von einem bewaffneten Bürgerheer mit vier Korps und einer starken kantonalen Verwurzelung wurde eine moderne, modular aufgebaute Einsatzarmee, zur Hauptsache aufgeteilt in die beiden Teilstreitkräfte Heer und Luftwaffe. Im Wissen darum, dass mit der verbleibenden Mannschaftsstärke von 120'000 aktiven AdA und dem enger gesteckten Finanzrahmen nicht wie bisher sämtliche erforderlichen Aufgaben abgedeckt und moderne Ausrüstung beschafft werden konnte, ging es seither darum, eine Kernkompetenz in den zentralen Einsatzbereichen und den wichtigsten Waffensystemen zu erhalten. Weitere Beschaffungen und die Ausbildung bis hin zur Einsatzbereitschaft mussten in das terminologisch aber in der Sache keineswegs neue Gefäss des Aufwuchses verschoben werden. Das vor Jahresfrist präsentierte Aufwuchskonzept ist bezüglich der Zeitverhältnisse, der finanziellen Mittel und der Beschaffungs- und Ausbildungsmöglichkeiten in der politischen Diskussion umstritten. So soll ein Aufwuchs gegen zehn Jahre in Anspruch nehmen können. Das Beispiel der Kriege in Ex-Jugoslawien lässt an dieser Annahme Zweifel aufkommen. 1989 war niemand von einem Krieg ausgegangen, 1991 war dieser aber bereits Realität. Auch soll ein Aufwuchs Mittel von mindestens CHF 40 Mia. benötigen. Woher diese Mittel in kürzester Zeit kommen sollen, ist offen. Sodann sollen die benötigten Rüstungsgüter möglichst rasch und in erheblicher Stückzahl beschafft werden. Ohne eigene Rüstungsindustrie dürfte dies ein schwieriges Unterfangen werden, zumal die Schweiz auf dem Weltmarkt in einer entsprechenden Bedrohungssituation nicht das einzige Land sein wird, das in diesem Zeitpunkt Rüstungsgüter beschaffen will. Bei einer Reduktion der Truppenstärke von 800'000 auf 120'000 (plus Reserve) Mann, einer Reduktion des VBS- (bzw. EMD-) Budget zwischen 1980 und heute von 8.2% auf 3.7% der Gesamtausgaben und einer massiven Kostensteigerung von Hochtechnologiegütern stellt sich die Frage nach den Alternativen zum vorliegenden Aufwuchskonzept. Kritiker und Befürworter befleissigen sich gleichermassen, auf den Aufwuchs während des zweiten Weltkrieges hinzuweisen. Damals war die Schweiz auch erst im Jahre 1944 bereit ... .

3.3 Die Umsetzung des sicherheitspolitischen Konzepts

Im Bereich der Verteidigung/Raumsicherung wurden in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte sowohl in der Ausbildung als auch in der qualitativen Ausrüstung gemacht. Die Ausbildung wurde auf allen Stufen effizienter und effektiver gestaltet. Angefangen mit der dreitägigen Rekrutierung, anlässlich der die angehenden Wehrmänner individuell beurteilt und nach Möglichkeit auch für eine entsprechende Funktion vorgesehen werden, über die auch im internationalen Vergleich qualifizierte Stabsausbildung bis hin zu den computersimulierten und minutiös geplanten Übungen auf Stufe Grosser Verband und Teilstreitkraft.

Auch die Ausrüstung durchschritt nach Massgabe der finanziellen Möglichkeiten einen technologischen Quantensprung. Von der persönlichen Ausrüstung über die Führungsinformationssysteme in den Gefechtsfahrzeugen bis hin zum im Aufbau befindlichen FIS Heer fanden zahlreiche Neuerungen Einzug.

Im Bereich der Existenzsicherung finden zahlreiche Einsätze statt, die bisher allesamt erfolgreich verlaufen sind. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass aus der bisherigen Ausbildungsarmee eine eigentliche Einsatzarmee geworden ist. Mehr als die Hälfte der Diensttage der WK-leistenden Milizangehörigen geht mittlerweile auf das Konto der Einsätze. Auch wenn einzelne dieser Einsätze aufgrund ihres fehlenden militärischen Nutzens hinterfragt werden können, hat diese Entwicklung grundsätzliche Auswirkungen auf die Armee. Um die Vielzahl unterschiedlichster Einsätze bewältigen zu können, wird angestrebt die Anzahl Durchdiener zu erhöhen und den Grossteil der Einsätze durch diese Milizsoldaten leisten zu lassen.

Im Bereich der Friedensförderung engagiert sich die Schweiz derzeit mit rund 220 AdA in diversen Krisengebieten rund um den Globus. Das Gros der Truppe leistet ihren Einsatz in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Militärbeobachter und Offiziere in internationalen Stäben leisten Dienst von Jerusalem über Georgien nach Afghanistan. Zudem engagiert sich die Schweiz seit 1997 mit Experten in der humanitären Minenräumung u.a. auf dem Balkan, in Jemen, Aserbaidschan, Äthiopien, Eritrea, Somaliland, Afghanistan, Sri Lanka, Irak und Tschad. Die im Rahmen der AXXI vorgesehene Aufstockung auf Bataillonsstärke (rund 500 AdA) ist aufgrund der neuesten politischen Zugeständnisse des VBS, die zur Mehrheitsfindung für den Entwicklungsschritt 08/11 gemacht wurden, um weitere zwei Legislaturen verschoben worden. Im Vergleich zu Österreich oder den Nordischen Ländern nimmt sich das schweizerische Engagement im Bereich der Friedensförderung sehr bescheiden aus.

Von militärischen oder sicherheitspolitischen Engagements in internationalen Organisationen hat die Schweiz bisher abgesehen. Einzig dem Programm „Partnership for Peace" (PfP) hat sich die Schweiz 1996 angeschlossen. Anlässlich des Beitritts zu PfP bekräftigte der Bundesrat, dass die Schweiz der dauernden und bewaffneten Neutralität verpflichtet sei, und versicherte, dass die Schweiz keine Absicht hege, die Neutralität aufzugeben und der NATO beizutreten.

3.4 Der Entwicklungsschritt 08/11

Schon bei der Konzeption der AXXI kommunizierte der Bundesrat klar, dass die Armee laufend den aktuellen Bedürfnissen anzupassen sein wird. Nachdem die Planer der AXXI ursprünglich von einem Budget von CHF 4.3 Mia. ausgegangen waren, stehen heute noch CHF 3.7 Mia. zur Verfügung. Trotz Umlagerungen und erheblichen Sparanstrengungen u.a. in den Bereichen Verwaltung und Logistik macht allein schon der engere Finanzrahmen Anpassungen nötig. Geplant ist u.a. die stärkere Fokussierung auf die Raumsicherung und die Verminderung der klassischen Verteidigungsanstrengungen. Dies hat eine Reduktion der Panzer- und Artillerieformationen zu Gunsten einer Erhöhung der Infanterieverbände zur Folge. Wie bereits ausgeführt, ist sodann die Erhöhung der Anzahl Durchdiener geplant, um die Einsätze besser bewältigen zu können. Schliesslich ist auch die Aufstockung des für Auslandeinsätze zur Verfügung stehenden Kontingents vorgesehen. Nachdem die bundesrätlichen Vorschläge in der Herbstsession 2006 in Flims im Nationalrat eine Abfuhr erlitten hatten, ging es in den letzten Monaten darum, das Reformprojekt im Interesse der Armee zu retten. Die Schweizerische Offiziersgesellschaft (SOG) engagierte sich mit einem runden Tisch der bürgerlichen Parteien aktiv in der Lösungsfindung. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass die politische Unterstützung für Armeefragen in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist, und dass die immer noch weit verbreitete Vorstellung, bürgerliche Politiker stünden unisono für die Interessen der Armee ein, schlicht naiv ist. Die militär- und noch mehr die sicherheitspolitische Trennlinie verläuft heute eher zwischen Konservativen (auf beiden Seiten des politischen Spektrums) und Liberalen. Den jüngsten Verlautbarungen aus dem VBS zufolge darf man trotz des sich abzeichnenden politischen Kuhhandels (dieser Begriff sei durchaus positiv verstanden) guter Hoffnung sein, dass das Projekt wenn auch mit Abstrichen – vorab bei den Auslandengagements und einer geringeren Reduktion der mechanisierten Verbände - eine Mehrheit im Parlament finden wird.

3.5 Die MG-Revision 09

Parallel zur aktuellen Reformdiskussion um den Entwicklungsschritt 08/11 lief Ende 2006 die Vernehmlassung zur Revision 09 der Militärgesetzgebung. Vorgeschlagen wird u.a. ein Auslandobligatorium für die Miliz, die Leistung eines verlängerten WK's im Ausland, die Verpflichtung von Durchdienern zu Auslandeinsätzen. Grundsätzlich stösst die Revisionsvorlage mehrheitlich auf Zustimmung. Einige Vernehmlasser lehnen die Vorlage aber grundsätzlich ab, insbesondere weil sich diese mit dem Entwicklungsschritt 08/11 überschneiden würde oder weil sie sich in Bezug auf einige Revisionsschwerpunkte (Auslandeinsätze, internat. Ausbildungszusammenarbeit) in die falsche Richtung bewege. Andere Vernehmlasser postulieren ein Aufschieben der Vorlage bzw. der mit der AO-Revision 08 zusammenhängenden Revisionsgegenstände. Die SOG kritisierte vor allem die Möglichkeit von sechswöchigen WK's (ohne KVK) im Ausland als milizuntauglich.

3.6 Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die modernen Bedrohungen erkannt und sorgfältig analysiert und die notwendigen Anpassungen im VBS und in der Armee in verwaltungstechnischer bzw. militärischer Hinsicht eingeleitet und teilweise umgesetzt worden oder zumindest in Planung sind. Bei aller Kritik die an der Armee und ihrer Führung heute geübt wird, wird häufig verkannt, dass die Armee ihre Hausaufgaben im Rahmen des ihr politisch zugestandenen Handlungsspielraums zur Hauptsache gemacht hat.

II. (Sicherheits-) politische Herausforderungen

1. Die Armee in der politischen Diskussion

In den letzten 18 Jahren wurden zahlreiche sicherheitspolitisch und militärisch relevante Fragen öffentlich diskutiert und auch entschieden. So befanden die Stimmbürger zweimal über Armeeabschaffungsinitiativen, ein Verbot von Rüstungsexporten, die Beschränkung der Anzahl Waffenplätze, die Beschaffung von Kampfflugzeugen etc. Die aktuellen Reformprojekte bilden ebenfalls Gegenstand kontroverser Diskussionen und auch die Zukunft verspricht mit der Initiative Weber (Beschränkung des Lärms von Kampfflugzeugen in Tourismusregionen), der Frage nach der Aufbewahrung von Armeewaffen zu Hause und noch nicht erloschenen Gelüsten zur Abschaffung der Armee viel Gesprächsstoff. Ingesamt hat aber das Interesse an öffentlichen Diskussionen zu sicherheitspolitischen und militärischen Fragen in den letzten Jahren markant abgenommen. Nur wenige Parlamentarier interessieren sich ernsthaft für diese Fragen und noch weniger verstehen etwas davon. In Offizierskreisen werden derweil vorab praktische Fragen zur Umsetzung der AXXI, die Bezeichnung von Brigaden, die Rahmenbedingungen für Berufsoffiziere ... erörtert.

2. Erörterung der Grundsatzfragen tut Not

2.1 Die bisher nicht geführte politische Diskussion

Nebst all diesen Diskussionen von Einzelfragen tut heute eine offene, kritische Diskussion und Entscheidfindung zu den Grundsatzfragen auf politisch-strategischer Ebene wie der Stellung der Schweiz in Europa und der Welt, die Bedeutung der Neutralität in der heutigen Zeit und die allgemeine Wehrpflicht Not. Auch wenn die beiden erstgenannten Diskussionspunkte keine spezifisch sicherheitspolitischen Fragestellungen beinhalten, zeichnet sich aufgrund der politischen Konstellation dennoch ab, dass diese auch auf der sicherheits- und nicht (nur) auf der aussen- und aussenwirtschaftspolitischen Ebene erörtert werden müssen. Obwohl die Notwendigkeit einer Klärung dieser Fragen auf der Hand liegt, haben es bisher sowohl Bundesrat und Parlament als auch die aussen- und sicherheitspolitischen Meinungsmacher vermieden, diese Fragen zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion zu machen. Zu langfristig und komplex sind diese Fragestellungen, als dass sich damit kurzfristige politische Erfolge feiern oder Geschäfte machen liessen. Die SOG beabsichtigt, die Diskussion zu den Grundsatzfragen zu forcieren, sobald der Entwicklungsschritt 08/11 politisch verabschiedet sein wird. Ob allerdings die Entscheidungsträger willens sind, dieses Diskussionsangebot anzunehmen, bleibt abzuwarten. Ein Versuch ist es allemal wert; in diesem Sinne verstehen sich auch die nachfolgenden Ausführungen.

2.2 Die Wahrung nationaler Interessen

Im Zentrum der Überlegungen muss die möglicherweise ungewohnte Frage stehen, wie die Schweiz ihre nationalen Interessen unter steter Berücksichtigung der universellen Menschenrechte und des Völkerrechts am besten wahren kann. Um diese Frage beantworten zu können, muss das Selbstverständnis der Schweiz hinterfragt werden. Nach der bisherigen Konzeption versteht sich die Schweiz als mitteleuropäischer Kleinstaat, der sich der dauernden Neutralität verschrieben hat. Betrachtet man die heutige politische und wirtschaftliche Landkarte Europas, so stellt man fest, dass sich die Schweiz politisch nicht mehr in Mittel- sondern in Westeuropa befindet und wirtschaftlich alles andere als ein Kleinstaat ist. Die Schweiz nimmt ihre wirtschaftlichen Interessen weltweit sehr erfolgreich wahr. Selbst geographisch ist die Schweiz nicht kleiner als zahlreiche andere europäische Länder wie z.B. die Niederlande, Belgien, Dänemark, Slowenien, die Baltischen Staaten, Luxemburg ... . Sodann ist die Schweiz umgeben von EU-Staaten (mit Ausnahme Liechtensteins) und NATO-Staaten (mit Ausnahme Liechtensteins und Österreichs).

Aufgrund der modernen Bedrohungslage ist die Schweizer Wirtschaft betroffen, wenn Terroranschläge in New York, London oder anderswo stattfinden. Jeder Bürger, der sein Geld an der Börse investiert hat, ist finanziell betroffen von Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten. Schweizer Bürger sind von Terroranschlägen (z.B. Ägypten 1997), Kriegen (z.B. Libanon 2006) oder Katastrophen weltweit betroffen und haben einen Anspruch darauf, repatriiert zu werden. Nationale Interessen sind in der heutigen, globalisierten Welt somit nicht nur auf dem eigenen Staatsgebiet sondern weltweit zu wahren.

2.3 Die Frage der Kooperation

Die bisherige Konzeption ging davon aus, dass die Schweiz ihr Staatsgebiet autonom verteidigen können müsse. Heute ist die Schweiz aber weder militärisch noch politisch in der Lage, sich selber zu verteidigen und zwar weder nach dem Verständnis der autonomen Verteidigung noch nach der Konzeption der Sicherheit durch Kooperation. Zur Wahrung ihrer politischen Interessen in einem internationalen Kontext ist die Schweiz kaum in der Lage, wie uns diverse Beispiele der letzten zehn Jahre gelehrt haben. Bei der Abwehr einer terroristischen Bedrohung ist die Schweiz auf eine enge und vollwertige Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten Dritter angewiesen. Für den wenig wahrscheinlichen Fall eines Beschusses mit Raketen oder gar für den noch sehr viel unwahrscheinlicheren Fall eines terrestrischen Angriffs ist ein Zusammenwirken zumindest mit den Nachbarn unumgänglich und zwar selbst dann, wenn die Schweiz im Rahmen des Aufwuchses die nötigen Mittel beschaffen könnte. Zur Abwehr der meisten modernen Bedrohungen ist also eine Kooperation mit Dritten unumgänglich geworden. Eine solche Kooperation kann aber nicht in einer ad hoc-Koalition unter Zeitdruck getroffen werden. Das Eingehen einer ad hoc-Koalition in Zeiten der Not erscheint angesichts der politischen Konstellationen und Bündnisse illusorisch, zumal die Schweiz bisher bewusst eine vertiefte, institutionalisierte Kooperation abgelehnt hat. Auch ist es heute nicht mehr mit Geheimabsprachen wie im zweiten Weltkrieg getan. Das demokratisch rechtsstaatliche Staatsverständnis des 21. Jahrhunderts erfordert einen politischen Entscheid solch zentraler Fragen. Angesichts der Komplexität der Bedrohungsformen, der Schwerfälligkeit politischer Entscheidungsprozesse und des grossen Zeitbedarfs für die Sicherstellung der Interoperabilität sind institutionelle Kooperationsformen die logische Folge. Wie eine solche Kooperation auszugestalten ist und mit wem sie eingegangen werden kann, bedarf einer sorgfältigen Klärung.

2.4 Die Zukunft der Neutralität

Ob die Neutralität als sicherheitspolitisches Instrument in einer zukünftigen Konzeption noch Platz haben wird, muss ebenfalls Gegenstand dieser Klärung sein. Der heute ideologisch verklärte Begriff der Neutralität, auf den sich die Konservativen beider Seiten des politischen Spektrums berufen, darunter aber diametral verschiedene Positionen vertreten, und sich gleichzeitig auf die angebliche Legitimation durch 80% der Schweizer Bevölkerung berufen, spielt in einer nüchternen Situationsanalyse praktisch kaum mehr eine Rolle. Gegen den (islamistischen) Terror, der sich auch gegen unsere eigenen Bürger richtet, schützt Neutralität nicht. In einer heute denkbaren Verteidigungssituation schützt uns die Neutralität ebenfalls nicht; die Schweiz wird als Bestandteil Europas und damit der westlichen Welt verstanden, wenn sie international überhaupt Beachtung findet. Zur nachhaltigen Durchsetzung der Neutralität mit militärischen Mitteln gegen einen modernen Gegner sind wir (leider) nicht in der Lage. Die Guten Dienste, welche die Schweiz als neutraler Staat noch bis Ende 1980-er Jahre erfolgreich angeboten hatte, haben ihre Bedeutung weitgehend verloren. Friedensverhandlungen finden heute überall auf der Welt statt, von Oslo über New York nach Jerusalem. Eine Analyse der gegenwärtigen Konflikte und Krisen ergibt, dass die Schweiz einzig im Irak-Krieg verpflichtet wäre, Neutralität zu wahren. Aber selbst dort wäre sie wie das Beispiel Deutschland zeigt, selbst als Mitglied der NATO und der EU weder rechtlich noch politisch zur Parteinahme verpflichtet. Sollte die Klärung ergeben, dass die Schweiz weiterhin an einer klar definierten Neutralität festhalten will, so ist diese auf ihren Kerngehalt zurückzuführen: das Verbot der Parteinahme im Falle eines Konfliktes zwischen zwei oder mehreren souveränen Staaten.

Ohne dass diese grundsätzliche Frage nicht geklärt ist, wird keine Ruhe in die schweizerische Sicherheitspolitik und damit auch nicht in die Armee kommen, da sämtlichen Strategien und Planungen der politisch stabile Boden fehlt. Auch dürfte es zusehends anspruchsvoller werden, grosse Beschaffungsprojekte wie den Ersatz des F-5E politisch durchzusetzen. Deshalb muss es im Interesse der Offiziersgesellschaften sein, dass diese Grundsatzfrage öffentlich diskutiert und darüber entschieden wird. Allerdings ist in der Geschichte der Eidgenossenschaft kaum je ein aussen- und sicherheitspolitisch entscheidender Schritt ohne Druck von aussen durchgesetzt worden. Das war bereits bei der Einführung der Neutralität so; es blieb der Ständen der Eidgenossenschaft seit 1515 nichts anderes übrig, als neutral zu sein und sich die Unabhängigkeit durch den Verkauf der wehrfähigen Männer in fremde Dienste zu sichern. Auch bei der Einführung des Konzepts der dauernden Neutralität ausgangs des 19. Jahrhunderts war dies nicht anders: die politisch und militärisch schwache Schweiz versuchte sich im Rahmen der Nationalstaatenbildung in Europa zu behaupten. So wird diese politische Diskussion voraussichtlich noch einige Zeit auf sich warten lassen. Aufgrund der stabilen politischen Lage im EU-Raum ist die Schweiz in der vorteilhaften Lage, dass sie sich mit der Analyse ihrer militärischen und sicherheitspolitischen Grundkonzeption Zeit lassen kann. Besser diese Diskussion heute zu führen als dazu gezwungen oder gar von der Realität eingeholt zu werden

2.5 Armee ja, aber ohne mich ... zur Zukunft der allgemeinen Wehrpflicht

Eine weitere, wenn auch weniger ideologisch befrachtete Grundsatzfrage betrifft die allgemeine Wehrpflicht. Die Konzeption der allgemeinen Wehrpflicht hat ihren Ursprung in der „levée en masse" der französischen Revolution. Seit der Wende von 1989 hat sich das Bedürfnis der Europäischen Armeen an ihr Personal aber grundlegend verändert. Gefordert sind nicht mehr eine möglichst hohe Anzahl an Bürgersoldaten sondern eine kleinere Anzahl gut ausgebildeter, multifunktional einsetzbarer und jederzeit verfügbarer Soldaten. In Frankreich hat dies zur Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zugunsten einer Berufsarmee geführt. In Deutschland wird die Einführung einer Berufsarmee insbesondere aufgrund der zunehmenden Anzahl internationaler Einsätze mit langen Auslandpräsenzzeiten und der immer komplexer werdenden Systeme alle paar Jahre auf die politische Agenda gesetzt. Die Schweiz hat sich bisher mit der geplanten Aufstockung des Berufspersonals, der Einführung von Zeitsoldaten und Durchdienern beholfen. Zudem wurden die Ausbildungszeiten in den unteren Kaderlehrgängen deutlich gekürzt. Im Rahmen der Revision 09 wird die Möglichkeit zum Aufgebot zu einem WK im Ausland von doppelter Dauer in einem Jahr zur Diskussion gestellt. Auch die Schweizer Armee ist darauf angewiesen, über rasch disponible und entsprechend ausgebildete Soldaten und Kader zu verfügen, sei es für die Einsätze oder die Ausbildung. Trotz der hohen zeitlichen Belastung von Bataillonskommandanten und Stabsoffizieren von bis zu 50 Tagen pro Jahr finden sich weiterhin genügend Interessenten. Auch Interessenten für die Offiziersausbildung melden sich wieder in genügender Anzahl. Anders sieht es bei den Funktionen auf Stufe Bat Stab aus, wo schon seit mehreren Jahren personelle Engpässe zu verzeichnen sind.

Ob auch in Zukunft den Bedürfnissen der Armee entsprechend Milizkader insbesondere für höhere Kaderfunktionen in genügender Anzahl und Qualifikation zur Verfügung stehen werden, hängt einerseits von der Weiterentwicklung der Armee und andererseits von den Bedürfnissen der Wirtschaft und der Gesellschaft ab. Im letzten Jahr wurden rund 35 Prozent der Stellungspflichtigen als untauglich bezeichnet und damit nicht in die Rekrutenschule aufgeboten. In der Rekrutenschule werden einige Prozent der Eingerückten entlassen. Während der ordentlichen Dienstzeit verabschieden sich noch einmal einige Prozent aus der Dienstpflicht. Somit wird kaum mehr als die Hälfte der Männer mit Schweizer Bürgerrecht ihre reguläre Militärdienstzeit (vollständig) absolvieren. In der heutigen Gesellschaft reicht es keinem zum Nachteil, wenn er den Militärdienst nicht absolviert. In zahlreichen Unternehmen, insbesondere in grossen Unternehmen mit internationaler Ausrichtung, bei ausländisch gehaltenen Arbeitgebern oder bei Arbeitgebern mit einem ausländischen Management werden längere militärbedingte Absenzen meist nicht gern gesehen, die in den militärischen Ausbildungen angeeigneten Kompetenzen aber sehr wohl.

Ob heute noch von Wehrgerechtigkeit gesprochen werden kann, sollte ebenfalls zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion gemacht werden. Aufgrund dessen und der Tatsache, dass gut 25 Prozent der jungen Männer nicht Schweizer Staatsangehörige sind aber in gleichem Masse von den Errungenschaften unseres Staates profitieren, muss auch die Frage erörtert werden, ob nicht eine allgemeine Dienstpflicht mit einer beschränkten Wahlmöglichkeit seitens des Dienstpflichtigen und des Staates (Wehrdienst ja oder nein) eingeführt werden sollte.

Autor:

Dr. Christoph Zimmerli, Oberstlt i Gst, Altpräsident OGB, Vorstandsmitglied SOG, Bern. Der Autor vertritt in diesem Beitrag ausschliesslich seine persönliche Meinung.