Das Thema des Referates von Br Daniel Krauer, Chef MND, beschäftigt uns alle: Der Ukraine-Konflikt. 75 Personen sind der Einladung der Offiziersgesellschaft Stadt Bern gefolgt und füllen den Vortragssaal im Äusseren Stand. Geplant war ein Referat über den Militärischen Nachrichtendienst im Allgemeinen, eine tour d’horizon. Die Ereignisse in Osteuropa veranlassen den Referenten, tagesaktuell zu berichten. Es ist ruhig im Saal, draussen hört man Jugendliche lachen. Nur dreitausend Kilometer östlich von Bern entfernt tobt ein Krieg.

Die erste Folie mag noch humorvoll wirken: der Tiger NATO und der Russische Bär fauchen und knurren sich an: „Keinen Schritt weiter!“ Dabei fläzt sich aber der Bär schon breit auf der angedeuteten Landkarte der Ukraine.

Die nächste Folie sieht mit dem mit einem Z bezeichneten Kampfpanzer und mit Rauchwolken von Treffern schon wirklichkeitsnäher aus. Br Krauer teilt seinen Vortrag ein in: Bisheriger Konfliktverlauf, Lageentwicklungsmöglichkeiten, Massnahmen der Armee, erste Erkenntnisse für die Streitkräfteentwicklung sowie eine Zusammenfassung. Wir haben den 9. Mai 2022. In Moskau „feiert“ der Staatschef Russlands Sieg über die Nationalsozialisten, am 8. Mai 1945. Noch vor wenigen Monaten hätte niemand daran gedacht, dass dies ein „heisses“ Datum sein könnte und nun blickt alles nach Moskau. Br Krauer schlägt den historischen Bogen zum Ende des Zweiten Weltkrieges und warum von „Entnazifizierung“ gesprochen wird, von Demilitarisierung, von „Befreiung“ des Donbass. Es sehe jedoch an diesem 9. Mai danach aus, als habe Putin das Gegenteil erreicht, was für ihn einer Katastrophe gleichkommt.

Der MND verfolgt die Aktivitäten beider Seiten. Karten zeigen die Vorgeschichte und den bisherigen Konfliktverlauf. Entgegen der Medieninformationen weiss der MND, dass das Dispo bereits 2021 verstärkt worden ist und die ersten Bedrohungen waren erkennbar. Es wurden aus fernen Regionen Russlands, Truppen verlegt für ein „Manöver“, doch nach dessen Abschluss blieben sie einfach im Militärbezirk West und in Belarus und kehrten nicht zu ihren Einheiten zurück. Das sind professionelle, erprobte Soldaten, die können kämpfen. Da hätte man schon hellhörig werden können.

Nach Ausbruch des Krieges war rasch erkennbar, dass es mit der Logistik hapert. Die russische Logistik basiert auf Eisenbahnen. Die grossen Verkehrsknotenpunkte liegen in den Städten. Es muss umgeladen werden, und die Logistik bleibt stecken. Auch die Ukraine war gut informiert über Dispo und Logistik. Die Bevölkerung und die ukrainische Armee sind sehr diszipliniert. Sie haben seit 2014 geübt, wie sie nun kämpfen. Auftragstaktik, Ausbildung, modernes Material. Das wird kaum veröffentlicht.

Vier strategische Fehlbeurteilungen seitens Russlands sind auszumachen in der „Sonderoperation Z“ zur „Befreiung“ des Donbass. Man glaubte, die Befreier werden freudig empfangen, es geht schnell, es gäbe keine Kollateralschäden und wenige Verluste bei den Ukrainischen Streitkräften. Der „Blitzkrieg“ führte nicht zum Erfolg. Die Ukrainischen Streitkräfte sind viel besser, als man je geglaubt hat und die Einigkeit im Westen ist unterschätzt worden. Man hatte nicht mit so grossem Widerstand gerechnet. Die Kräftekonzentration liegt im Donbass, es geht hin und her über den Fluss, Dorf um Dorf ist umkämpft, auf russischer Seite mit Material, das zwar noch fährt und noch schiesst, aber veraltet ist. Br Krauer erwähnt die den meisten Zuhörern bekannten Reglemente „Streitkräfte Ost“, aus den 80er Jahren.

Der Referent geht auf die Frage ein „Warum Mariupol“? Danach widmet er sich den Lageentwicklungsmöglichkeiten kurzfristig (Offensive in den kommenden Tagen bis Wochen zu erwarten), mittel bis langfristig geht er davon aus, dass es ein langer Krieg sein wird. Eine Normalisierung sieht er noch nicht. Der russische Präsident droht offen mit Nuklearwaffen. Das muss man ernst nehmen. Finnland und Schweden wollen rasch der NATO beitreten und haben die volle Unterstützung ihrer Bevölkerung.

Unter Lageentwicklungsmöglichkeiten muss man auch die Implikationen Schweizer Armee betrachten: Migration, ABC-Bedrohung, Destabilisierung an Peripherie Europas (Preise Grundversorgung), zukünftige Risiken in Europa. Was sind die Massnahmen unserer Armee? Dies sind die Ausrichtung der nachrichtendienstlichen Tätigkeiten (Priorisierung), die Überprüfung der Bereitschaft und Vorausplanung, Lehren für die langfristige Ausrichtung der Armee (FOSKE) und weitere Massnahmen die sich laufend entwickeln.

Erste Erkenntnisse für die eigene Streitkräfteentwicklung heissen insbesondere: Keine voreiligen Lehren ziehen, denn wir haben eine lückenhafte Informationslage, man muss weitere Konfliktphasen abwarten. Die bisherigen Feststellungen sind die hybride Kriegführung, die Bedeutung des Informationsraumes, Boden, Luft und andere Operationssphären und leider auch nukleare Abschreckung. Ein Einsatz von ABC-Waffen ist wieder denkbar. (Anmerkung der Schreibenden: Wie haben wir doch den „AC-Türgg“ gehasst! Aber eben: übe, wie Du kämpfst!) Der Informationsraum hat enorme Bedeutung und wir sind gehalten, sehr vorsichtig zu sein.

Br Krauer fasst die Erkenntnisse zusammen. Ein Verteidiger mit ausgewogenen Fähigkeiten, bei den mittlere bis schwere Kräfte die urbanen Gebiete halten, mit leichten Kräften im Vorgelände die Zermürbungsaktionen durchführen, kombiniert, kann einen stärkeren Gegner besiegen. Da es keine endgültige Niederlage am Boden gibt, ist der Informationsraum in diesem Konflikt entscheidend, und die Überlegenheit in diesem Bereich verschafft immense Vorteile, insbesondere durch massive externe Unterstützung. Taktische Elemente am Boden nutzen den Luftraum (bewaffnete Drohnen) und den Orbit, um die Effekte zu multiplizieren und damit eine unverhältnismässig grosse Wirkung zu erzielen. Weiter gibt es Erkenntnisse in den Operationssphären am Boden, in der Luft, im Elo Raum, im Cyber Raum, im Weltraum.

Mit der Zusammenfassung schliesst der Referent seinen Vortrag. Stichworte sind: Zunehmende Unsicherheiten in Europa, militärische Fähigkeiten haben an Bedeutung gewonnen, Internationale Kooperation, Anfälligkeit von Lieferketten/Globalisierung und die Bedeutung des Nachrichtendienstes, ein eigenständiges Lagebild. Die Möglichkeit einer Diskussion wurde rege genützt. Dabei kommt einem zu Bewusstsein, wer nur Staatsfernsehen schaut, kennt nichts anderes, von Moskau bis nach Sibirien, und kann sich kaum eine andere Meinung bilden. Zu Beginn des Krieges im Februar arbeitete der MND im Zweischichtenbetrieb. Nur zu einer einzigen Frage schweigt der Referent, und das ist genau die Antwort, die erwartet worden ist. Ein äusserst aufschlussreicher und spannender Abend!

Four a.D. Ursula Bonetti
Chefredaktorin

Fotos: Nicole Fallscheer

 

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