Am Vorabend eines tragischen Jahrestages trafen sich rund 70 Mitglieder und Begleitpersonen der OG Stadt Bern im Empiresaal des Restaurants Zum Äusseren Stand zum Referat von Dr. Fritz Kälin. Es war der 23. Februar 2023, am 24. Februar 2022 war der Krieg in der Ukraine ausgebrochen. So hiess denn der ganze Titel des Referates „Sicherheitspolitische Betrachtungen für die Schweiz angesichts des Ukrainekonflikts“.
Dr. Fritz Kälin nahm dabei Bezug auf seine Dissertation von 2016, die 2018 als Buch in der Schriftenreihe Bibliothek am Guisanplatz als Nummer 72 herausgegeben worden ist: „Die schweizerische «Gesamtverteidigung». Totale Landesverteidigung im Kalten Krieg als kleinstaatliche Selbstbehauptungsstrategie im 20. Jahrhundert“. Ein Buch das also nach der Wende und vor dem aktuellen Krieg am Rande Europas geschrieben wurde.
Dr. Kälin geht auf die Geschichte der Gesamtverteidigung (GV) ein und findet offene Ohren, immer wieder zustimmendes Nicken, denn den meisten Zuhörern war der Begriff Zentralstelle für Gesamtverteidigung (ZGV) noch sehr präsent mit allen Namen, Kursen, Erfahrungen und Erinnerungen die damit verbunden waren. Die Notwendigkeit für Totale Landesverteidigung ergab sich aus der industrialisierten Kriegführung. Durch Gustav Däniker wurden diese militärischen und zivilen Verteidigungsvorbereitungen in einer Konzeption für «Gesamtverteidigung» aufeinander abgestimmt. Kälin zeigte auf, wie sich Däniker dabei vom strategischen Denken des französischen Generals André Beaufre leiten liess. Demzufolge verfolgt jeder Staat die Ziele Unabhängigkeit, Wohlstand und Einfluss auf andere Länder. Ohne Unabhängigkeit gibt es keine fairen Handelsbeziehungen für einen Kleinstaat ohne Ressourcen, ohne die es keinen Wohlstand gibt, der die Mittel zur Wahrung der Unabhängigkeit generiert.
Die Staatskunst muss diese Ziele aber gewichten. Dr. Kälin zeigt auf, dass der Bundesrat im ersten Sicherheitspolitischen Bericht von 1973 (zugleich die Konzeption der Gesamtverteidigung) ein klares Primärziel formulierte: Die Unabhängigkeit des Landes gegenüber allen Mächten zu wahren. Däniker unterzog seine Konzeption mit den Gesamtverteidigungsübungen von 1984 und 1988 ausgiebigen Belastungstest.
Zur Veranschaulichung der strategischen Zielpriorisierung vergleicht der Vortragende die Schweiz und Westdeutschland. Letzteres suchte seine Sicherheit primär dadurch zu erreichen, dass es einen grösstmöglichen Einfluss auf seine amerikanische Schutzmacht ausübte. Nach der Wiedervereinigung priorisierte Berlin das Wohlstandsziel einseitig auf Kosten seiner Unabhängigkeit und Einflussmöglichkeiten. Seit 2022 rächen sich die daraus entstandenen, einseitigen Abhängigkeiten von den USA (Sicherheit) und Russland (Energie).
In der Schweiz wurde die Zielpriorität «Unabhängigkeit» seit dem Fall der Berliner Mauer politisch in Frage gestellt. Die Abschaffung der Gesamtverteidigung in den 1990er-Jahren ist ein Symptom für diesen politischen Zielkonflikt. Die heute gültigen Berichte zählen sicherheitspolitische Ziele und Bedrohungen ohne verbindliche Gewichtung auf. Die strategische Ressourcensteuerung kann so von tagespolitischen Mehrheitsverhältnissen übersteuert werden.
Die Gesamtverteidigung soll ein Land gegen Machtpolitik absichern. Diese wird gemäss Beaufre immer in zwei Phasen betrieben. Bevor eine Grossmacht einem anderen Land seinen Willen z.B. durch einen Angriffskrieg aufzwingt (inneres Manöver), bereitet es diese Aggression von langer Hand vor (äusseres Manöver). Dementsprechend müssen auch die Instrumente der Gesamtverteidigung nicht nur das Schadensausmass einer Aggression senken, sondern die Wahrscheinlichkeit senken, dass andere Mächte ein äusseres Manöver gegen die Schweiz einleiten.
Der Referent bezieht sich in seinem Vortrag auf die Motion von Nationalrat Thomas Rechsteiner. Vom Bundesrat wird eine klare Strategie, eine zielorientierte Armeekonzeption erwartet. Eine Folie zeigt wo strukturelle Schwächen liegen zu Unabhängigkeit, Einfluss und Wohlstand. Die Verteidigung muss mit Zusammenarbeit in der Ausbildung gestärkt werden, aber was darf die Armee noch machen, um im Inneren noch wehrfähig zu sein mit einer Milizarmee? Er bezieht sich auf unsere bewährte Organisation Zivilschutz (ZS). Mit einer solchen Organisation hätten in der Ukraine zahlreiche Menschen gerettet werden können. Wir haben unsere einst obligatorisch erstellten Zivilschutzräume noch, aber sie werden nicht mehr unterhalten.
Welches Schwergewicht soll heute verteidigt werden? Zu denken gibt die Umfrage, was den Einwohnern unseres Landes Sorgen macht: Sicherheit ist nicht mehr dabei, trotz einem Krieg in unserer Nähe, am Rande Europas, trotz Flüchtlingen, trotz Atomwaffendrohungen. Wohlstand und Wohlbefinden scheinen wichtiger zu sein als Unabhängigkeit und Sicherheit. Von 1989-1999 war „Sicherheit durch Kooperation“ das Leitbild für Armeeberichte. Jetzt geht es um neue Dienstpflichtmodelle, um Ausbildung, Ausrüstung, um Logistik, die eine Verteidigung erst ermöglicht. Wieder stehen die drei Begriffe im Raum: Wohlstand, Unabhängigkeit und Einfluss. Es braucht die Legitimation Widerstand leisten zu können und zu wollen. Wie verteidigen wir unsere Identität als Land Schweiz? Viele erinnern sich an die „Geistige Landesverteidigung“ während dem Zweiten Weltkrieg, Information und Gedanken für die Bevölkerung. Es ist wichtig, den Rekruten heute mitzugeben wofür sie ausgebildet werden, was es heissen könnte, das Land verteidigen zu müssen. Wir müssen ihnen den Sinn aufzeigen und dann stehen sie dahinter und setzen sich ein. Mit fehlender Ausrüstung ist es nicht möglich, da geht jeder Verteidigungswille verloren.
Eine Frage ist nun, ob das Jahr Ukrainekrieg für unser Land etwas in Bewegung gebracht hat, ob sich die Doktrin geändert hat, denn nun stehen einige Fragen zur Neutralität in einem ganz anderen Licht da. Auch zur Neutralität geht es um das äussere und das innere Manöver der Machtpolitik, dem gegenüber steht die Neutralitätspolitik. Es ist Session und die Räte haben einiges zu beraten und zu entscheiden bezüglich Waffensysteme und Munition in Zusammenhang mit der bewaffneten Neutralität der Schweiz. Die grosse Frage steht im Raum: Soll sich die Schweiz (nur) von militärisch eskalierten Kriegen fernhalten, oder von allen Manövern der Machtpolitik?
Dr. Kälin gibt uns Gedanken mit zu den Mottos „Frieden in Unabhängigkeit“ (bis 1989/1999), seit 1989/1999 „Sicherheit durch Kooperation“ und ab 2022 „Aufwuchs“ als „Unabhängigkeit dank Kooperation“. Wird Letzteres politisch breit abgestützt werden?
Das interessante Referat von Dr. Kälin hat Fenster aufgestossen, durch die zu blicken sich lohnt, hinaus und auch hinter sich in den Raum hinein, wo wir leben. Mit dem Schlusswort von Präsident Oberst i Gst Frieder Fallscheer ist der Abend nicht zu Ende: es werden viele Fragen gestellt und viele Überlegungen stehen im Raum. Für Gesprächsstoff ist gesorgt.
Fachof (Hptm) Dr. Fritz Kälin / Four aD Ursula Bonetti